Die Schweizer Bundesverwaltung hat ab 1975 mit HERMES bereits sehr früh eine eigene Projektführungsmethode für IT-Projekte entwickelt und standardisiert. Eigentümerin von HERMES ist die Schweizerische Eidgenossenschaft, vertreten durch das Informatiksteuerungsorgan Bund (ISB). Im April 2013 wurde mit HERMES 5 eine grundlegend überarbeitete Version dieser Methode der Öffentlichkeit vorgestellt (Duwe und Tschanz, Projekt Magazin 07/2013). Zugleich wurde der TÜV SÜD als neue Zertifizierungsstelle mit der Durchführung der Personen-Zertifizierung beauftragt. In folgendem Beitrag skizziere ich, was das neue HERMES 5 bietet und gebe Ihnen einen Überblick, wie sich die Akzeptanz von HERMES 5 und seiner Zertifizierungen seither entwickelt hat.
Mehr als nur IT: Produktentwicklung und OE-Projekte
HERMES war ursprünglich als Vorgehensmodell für die Bereitstellung von Informationsverarbeitungssystemen designt worden. Das Akronym "HERMES" steht für "Handbuch der Elektronischen Rechenzentren der Bundes, Methode zur Entwicklung von Systemen". Bis vor zwei Jahren gab es zwei grundlegende Vorgehensmodelle von HERMES, nämlich "HERMES SE" für Systementwicklung und "HERMES SA" für Systemadaption. Die Fachprozesse gaben sehr stark vor, wie das Projekt geführt wurde, was sich bereits in den beiden Phasenmodellen für SA und SE zeigte. Dies war auch die große Stärke von HERMES: Das Projektmanagement war exakt auf das Management von IT-Projekten in einer Verwaltung abgestimmt. Als Sonderfälle gab es "abgespeckte" Versionen, beispielsweise für Organisationsentwicklungsprojekte. Dabei wurden im Wesentlichen nur der Organisationsaspekt der IT-Projekte "benutzt", die Anpassung der Methode an diese Sonderfälle oder an konkrete Projekte wurde als "Tayloring" bezeichnet.
Mit der im April 2014 publizierten Version 5 wurde HERMES von Grund auf überarbeitet und erhebt nun den Anspruch, eine deutlich breiter anwendbare Projektmanagementmethode zu sein als bislang, wenn auch kein generisches Projektmanagementsystem wie z.B. der PMBOK® Guide des PMI. HERMES wird kontinuierlich weiterentwickelt – im Juni 2014 wurde das letzte größere Release 5.1 freigegeben, das Inkonsistenzen korrigierte und einige Aspekte präzisierte.
Im Handbuch wird postuliert, dass "HERMES … die Projektmanagementmethode für Projekte im Bereich der Informatik, der Entwicklung von Dienstleistungen und Produkten sowie der Anpassung der Geschäftsorganisation" (HERMES 5.1 Referenzhandbuch, Abschnitt "Methodenübersicht") ist. Dieser Anspruch wird bereits mit dem neuen, sehr generischen Phasenmodell unterstrichen: Es umfasst nur noch vier Phasen und ist dadurch tatsächlich so allgemein, dass es immer anwendbar ist.
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Modular aufgebaute Methode
Mit Version 5 wurde HERMES konsequent modular aufgebaut: Managementtätigkeiten und Fachprozesse sind nun in sog. Modulen gruppiert. Die Module umfassen dabei jeweils eine Anzahl thematisch zusammenhängender Aufgaben mit ihren Ergebnissen. Die Verantwortung für Aufgaben ist definierten Rollen in Stamm- und Projektorganisation zugewiesen.
Die Module verstehen sich als wiederverwendbare Bausteine, aus denen die sogenannten Szenarien zusammengesetzt werden. Über diese berücksichtigt HERMES, dass es Projekte mit sehr unterschiedlichem Charakter, Inhalt und Komplexität gibt. Die acht vordefinierten Standardszenarien bilden in der Praxis so auch den Einstieg in das Setup eines Projekts: Gemäß dem Charakter bzw. Gegenstand des Projekts sucht man das geeignete Szenario aus und passt es dann an das konkrete Projekt an.
Bild 1: HERMES Standardszenarien (Quelle: HERMES 5.1 Referenzhandbuch, S. 6)
"Ergebnisse" im Mittelpunkt
Die Aufgaben dienen der Erarbeitung von Ergebnissen. "Ergebnisse" im Sinne von HERMES sind nicht nur Gegenstände (z.B. Prototypen), sondern auch Zustände (z.B. "System abgenommen") oder ähnliches. Zu jedem Ergebnis gibt es eine obligatorische Ergebnisbeschreibung. Für viele Ergebnisse stellt HERMES Dokumentvorlagen zur Verfügung. Diese spezifizieren die Ergebnisse näher und unterstützen so die jeweiligen Verantwortlichen bei ihrer Erstellung. HERMES benennt für jedes Ergebnis die an seiner Erstellung beteiligten Rollen und stellt so die Verbindung mit der Projektorganisation (s.u.) her. Die Einhaltung der übergeordneten Projekt-Governance wird durch die Definition von minimalen Sets von Minimalergebnissen (immerhin 37 von insgesamt 73 Ergebnissen) erreicht. . Die Minimalergebnisse stellen insbesondere sicher, dass nach HERMES 5 geführte Projekte in der Schweizer Bundesverwaltung den Anforderungen eines Audits durch die Eidgenössische Finanzkontrolle genügen. Die Ergebnisse sind somit der eigentliche Kern der Methode. In der Praxis gibt es kein Projekt, in dem alle Ergebnisse erstellt werden: Wird ein Modul nicht verwendet, so entfallen auch die zugehörigen Ergebnisse (einschließlich der Minimalergebnisse). Mit einer soliden Begründung dürfen auch weitere Ergebnisse weggelassen werden.
Um HERMES 5 einer breiten Anwendung zugänglich machen zu können, ist es als offene Methode konzipiert. So dürfen und sollen bei Bedarf projekt- oder organisationsspezifisch zusätzliche Ergebnisse, Aufgaben, Module und sogar Szenarien entworfen werden. So könnte z.B. ein Szenario "Entwicklung eines Elektroautos", ein Modul "Marketing" oder ein Ergebnis "Logistikkonzept" definiert und integriert werden. Auch pragmatische Anpassungen an die Projektgröße durch Zusammenfassen von Ergebnissen ist vorgesehen. Hierdurch kann gerade in kleinen Projekten vermieden werden, dass man in einer "Dokumentenflut" erstickt.
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Matthias Behrens
30.09.2015