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Das einzige, was an diesem Buch nicht so recht stimmt, ist der Untertitel "Fallstudien". Es sind genau genommen "Beispiele, Fallstudien, aktivierende Fragen und Trainingseinheit Zeitmanagement." Da dies nun ein wenig zu lang wäre, verstehe ich schon, warum der farblose Kurztitel gewählt wurde. Außerdem erhält die Rezension dadurch den Zusatznutzen, aufklärend über den tatsächlichen Inhalt wirken zu können.
Der ist ziemlich einzigartig. Echte Beispiele echter Projekte aus real existierenden (z. Teil auch nicht mehr existierenden) Unternehmen mit echten Problemen. Das ist an sich schon bewundernswert. Denn wann immer ich selbst versuche, Projekte mit ihren realistischen Problemen, Haken und Ösen darzustellen, renne ich sofort gegen stahlbetonbewehrte Wände der Geschäftsführung oder der Presseabteilung. "Berichten Sie doch über die Erfolge, vielleicht auch über Herausforderungen, aber doch bloß nicht über so negative Sachen wie Probleme!" ist die Standardformulierung. Es braucht schon die Bekanntheit und die unangefochtene Autorität eines Harold Kerzners, dass er ohne Gefahr für seine wirtschafltiche Existenz über die Projektrealität berichten kann. Mein tief empfundener Respekt ist ihm dafür sicher.
Nun aber zum Inhalt. Gegliedert nach fünfzehn Themenbereichen wie z.B. Einführung des Projektmanagemnts, Aufwandsschätzung, Änderungsmanagement, Risikomanagement oder Lohnpolitik schildert Kerzner Beispiele oder ganze Projektabläufe, denen er in seinem Beraterleben begegnet ist, oder sie sogar selbst begleitet hat. Da gibt es kurze zwei-Seiter, bei denen nur ein kleiner Aspekt beleuchtet wird und fast siebzig Seiten lange Detailstudien, die fast schon Ähnlichkeit mit einem Kurzkrimi haben.
Ich habe einfach mal mittendrin aufgeschlagen und bin, nachdem es sich schon so mysteriös anhört, beim Projekt "Blaue Spinne" hängen geblieben. Vielleicht las ich mich auch deswegen gleich daran fest, weil ich selbst aus dem FuE-Bereich komme und es in dieser Fallstudie um ein politisch gewolltes, technisch aber nicht erreichbares Entwicklungsergebnis geht. Ich verpasste dadurch glatt meinen nächsten Termin. Nur durch einen zufälligen Blick auf die Uhr konnte ich Schlimmeres verhindern und kam nur eine halbe Stunde zu spät. Der Maschinenbauer Gary Anderson, die Hauptperson dieser Geschichte, wird zum Programm-Manager ernannt und durchläuft in einem klassischen Himmelfahrtskommando sämtliche Höllen des Projektmanagements.
Nicht alle Beispiele sind so spannend, gerade die äußerst detaillierte Darstellung der Columbia-Katastrophe erfordert Durchhaltevermögen. Dafür entspricht sie mehr dem normalen Projektalltag, in dem es um viele Details geht, die in komplexen Zusammenhängen miteinander verwoben sind. Fast schon in Form der griechischen Tragödie entsteht in dieser Geschichte die Vernetzung vieler Einzelheiten zur konsequenten Katastrophe, die nur durch mutige, radikale und vor allem ertragsmindernde Entscheidungen des Management hätte verhindert werden können. Ein zum Nachdenken anregendes Lehrstück über technische Risiken, die aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen missachtet werden.
Für den optimalen Lernerfolg empfehle ich dieses Buch als regelmäßige Abendlektüre. Kurz vor dem Einschlafen sind die meist kleinen Leseeinheiten gut bewältigbar und bleiben im Gedächtnis. Dagegen spricht höchstens, dass Sie aufgrund des intensiven Nachdenkens über die anschließend gestellten Fragen eventuell nicht gut schlafen könnten. Gemeinerweise gibt es nämlich zu den Beispielen und Fallstudien zwar jeweils eine didaktisch kluge Frageliste - aber keine Antworten! Der Grund dafür ist einfach: Die LeserInnen sollen bitte nachdenken lernen. Das ist auch der wichtigste Effekt dieses Buchs: Werden Sie zum Projektdetektiv in eigener Sache! Es gibt keine einfachen Lösungen für die Realität, es gibt keine Bedienungsanleitung für Ihr Projekt, es gibt nur eins: Ihre Verantwortung für Ihr Handeln.
Das ist wohl auch Grund für die "Zugabe" am Schluss des Buchs: Kapitel 16 widmet sich dem Zeitmanagement. Anhand eines sehr realen Beispiels einer Arbeitswoche muss der Leser die ihm gestellten Aufgaben priorisieren, delegieren oder ablehnen. Mit einem hart begrenzten Zeitkontingent geht es darum, innerhalb der fiktiven Arbeitswoche möglichst viele Punkte zu erreichen. Diese gibt es für korrekte Entscheidungen und effiziente Erledigungen. Eine prima Idee - fast schon geeignet für ein Spiel.
Zu kritisieren sind lediglich einige Schwächen in der Übersetzung, beispielsweise wird "contingency plan" mit "Kontingenzplan" statt mit "Alternativplan" oder "Fall-Back-Plan" übersetzt. Dass die Fallstudien zum Teil schon recht alt sind, erscheint mir hingegen kein Nachteil - wenn man die Jahreszahlen überliest, wird man keinerlei Unterschied zu aktuellen Situationen finden.
Fazit: Das Buch ersetzt zwar keine eigenen Erfahrungen, aber es vermittelt einen äußerst realistischen Blick auf den tatsächlichen Projektmanagement-Alltag.