Gefühlte Sicherheit ist Voraussetzung für Handeln und Entscheiden. Deswegen betreiben wir in Projekten Risikomanagement. Hier werden mögliche Abweichungen und Einflüsse auf den Projektplan gesammelt, bewertet und entsprechende Gegenmaßnahmen erarbeitet. Die vorgefertigten Handlungsoptionen und Planungen geben uns das Gefühl der Sicherheit. Wir glauben, damit die Handlungsfähigkeit des Projektteams aufrechterhalten zu können, sowohl bei Abweichungen als auch bei eventuellen kritischen Phasen.
Die Projektrealität kümmert sich nicht um Pläne
In Projekten und bei der Neuentwicklung von Produkten tauchen aber erfahrungsgemäß stets unerwartete Situationen auf, die weder im Projektplan noch auf der Risikoliste zu finden sind. Beispiele hierfür sind unter anderem:
- Neue Anforderungen, die aus Kundensicht ganz einfach sind, aus Projektsicht aber den Lösungsansatz über den Haufen werfen
- Verzögerungen, für die es keine Erklärung gibt
- Unerklärliche Qualitätsmängel, für die erst nach langer Suche die Ursache z.B. im Zusammenwirken zweier bisher nicht miteinander verwendeter Komponenten gefunden wird
- Ausfälle von als absolut zuverlässig eingeschätzten Lieferanten
- kurzfristig geänderte gesetzliche Rahmenbedingungen
- eine Häufung von Hardwarestörungen in Roll-Outs
- ein Vulkanausbruch, eine Pandemie, usw.
Vermutlich können Sie diese Liste aus eigener Erfahrung noch um viele weitere Punkte ergänzen.
Es kommt darauf an, was man aus dem Unerwarteten macht
Nun ist es ja nicht so, dass Projekte grundsätzlich scheitern, weil unerwartete Ereignisse auftreten. Die Expedition von Kolumbus war durchaus erfolgreich, auch wenn er nicht in Indien gelandet war, wie ursprünglich geplant. Offensichtlich ist es also möglich, trotz oder besser gesagt in Ungewissheit zu handeln und zu entscheiden. Und es birgt sogar Chancen, wie uns die Geschichte von Kolumbus zeigt, der Amerika (wieder)entdeckte.
Handeln in Ungewissheit ist also nicht nur notwendig, sondern Ungewissheit hat sogar Potential für das Entstehen von Innovation. Da lohnt es sich, genauer hinzusehen, wie Handeln und Entscheiden in Ungewissheit geht und welche Kompetenzen dafür erforderlich sind. Dies will ich in diesem Artikel vermitteln.
Planung und Risikomanagement reichen nicht aus
Ebenso wie Projektplanung ist Risikomanagement eine vorausschauende Tätigkeit, die letztendlich den Erfahrungsschatz und Wissensstand der Beteiligten abbildet. Es verbleibt in Projekten ein Anteil an Ereignissen, die nicht vorab beschreibbar sind, wir bezeichnen solche Ereignisse als "nicht erwartet" bzw. sogar "unerwartbar". Unerwartbare Ereignisse treten auf, weil wir sie mit unserem Stand des Wissens nicht vorhersehen können, selbst bei professionellster und kompetentester Planung. Typische Beispiele, in denen unerwartete Situationen strukturell anerkannt sind, sind Expeditionen in unbekannte Länder und Regionen. Man kann solche Unternehmungen auch als Abenteuer (Wikipedia-Autoren, 2021) bezeichnen, gemeint ist damit, dass ein mehr oder weniger großes Unwissen über ihren Verlauf und ihren Ausgang typisch ist. Aber gerade auch im alltäglichen Projektgeschehen begegnen uns immer wieder kleine, nicht erwartete oder nicht erwartbare Ereignisse.
Was ist Ungewissheit?
Als Ungewissheit wird die Menge aller nicht erwartbarer Ereignisse bezeichnet (Heidling, Kuhlmey 2017). Strittig ist die Frage, ob wir solche Ereignisse in ferner Zukunft durch Verbreiterung unseres Wissens eben doch vorhersehen können oder ob Ungewissheit dem Lebendigen einfach innewohnt, d.h. strukturell bedingt ist. Diese Fragestellung ist eher eine philosophische und spielt für den praktischen Umgang mit Ungewissheit keine Rolle. Ich persönlich gehöre zur Fraktion derer, die Ungewissheit für systemimmanent halten und unsere Suche nach der absoluten Gewissheit als verständlich aber nicht ausreichend betrachten.
Was tun, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird?
Unerwartete Ereignisse lösen in Menschen eine gefühlte Unsicherheit aus. Wir fühlen uns unvorbereitet und reagieren daher oft archaisch. Flucht und Sich-tot-Stellen sind typische Reflexe, die sich in der modernen Zeit nur anders zeigen. Da der Plan – und dazu zähle ich auch die Risikoerwägungen – seine Gültigkeit verliert, braucht es eine neue Form der Sicherheit, um zu entscheiden und zu handeln.
Erschwerend kommt hinzu, dass Maßnahmen, die beim Auftreten von unerwartbaren Ereignissen ergriffen werden, oft zu weiteren Unwägbarkeiten führen (Ungewissheit zweiter Ordnung). Spätestens dann bricht die Idee, alles zu planen und zu kontrollieren, endgültig zusammen.
Detailliertere und umfassendere Planung ist in Ungewissheit also keine angemessene Vorgehensweise, denn:
- Sie ist (zu) langsam.
- Sie setzt Wissen voraus, um qualitative gute Ergebnisse zu erzielen; das ist aber in Ungewissheit nicht oder zumindest nicht ausreichend vorhanden.
- Sie geht einher mit gefühlter Kontrolle, und diese Kontrolle geht eben zumindest temporär verloren, was dann wiederum zum Verlust der gefühlten Sicherheit führt.
Ungewissheit stellt Handlungsfähigkeit in Frage
Es verbleibt also in Projekten, aber auch im sonstigen Leben, eine Menge an Ereignissen, die "wir nicht auf dem Schirm" haben und die unsere Handlungsfähigkeit zumindest vorübergehend in Frage stellen. Es ist daher klug, sich damit zu beschäftigen, wie ein konstruktives Agieren in Ungewissheit möglich ist. Wir brauchen gerade auch als Projektmanager zusätzliche Ansätze, die über die bisherigen Disziplinen des Projektmanagements hinausgehen. Diese Ansätze stellte bereits 2016 eine Expertise im Auftrag der GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V. zusammen. (Böhle, 2016).
Diese Studie belegt, dass es Situationen gibt, die unsere Planungen und Zukunftsvisionen sprengen und in denen andere Kompetenzen als unsere kognitiven eine wesentliche Rolle spielen, um weiterhin handlungs- und entscheidungsfähig zu sein. Dabei spielt gefühlte Sicherheit eine essentielle Rolle, denn diese ist Voraussetzung, um zu entscheiden und zu handeln. Die gute Nachricht dabei ist, dass diese Kompetenzen im Vorfeld trainiert werden können.
Don’t Panic – sinnvoll handeln ohne validen Plan
In einer unerwartbaren Situation kann nicht auf bekanntes Wissen und Erfahrungen zurückgegriffen werden, um sich daran zu orientieren. Handeln in Ungewissheit ist wie Navigieren zu einem entfernten Ziel im Nebel ohne GPS, nur auf Sicht. An Stelle geplanten Vorgehens tritt ein an die Situation angepasstes Handeln nach Versuch und Irrtum. Man tut etwas, beobachtet dabei das, was passiert, passt sein Tun an oder geht neue Wege. Das klingt sequentieller als es ist, denn Spüren, Denken und Handeln sind ineinander verzahnt. Das Denken erfolgt im Tun. Mittels "Lernen im Handeln" werden neue Erfahrungen gemacht, neues Wissen aufgebaut. Die Handlungen sind explorativ, eher tastend vorsichtig, vergleichbar mit dem Überqueren eines zugefrorenen Sees.
Vielen Dank für den…
04.04.2021
Vielen Dank für den inspirierenden Artikel. Ich würde mir noch ein, zwei Beispiele aus dem konkreten Projektalltag wünschen. Ich werde da mal bei der von Ihnen referenzierten Literatur nachforschen. Beste Grüße Markus Hamann