Ein mittelständisches Anlagenbau-Unternehmen sah sich nach Jahrzehnten unangefochtener Marktführerschaft seit einigen Jahren wachsender Billig-Konkurrenz aus dem Ausland ausgesetzt. Die Auftragsbücher waren zwar immer noch gut gefüllt und ausreichend Eigenkapital vorhanden, aber die Kunden diskutierten zunehmend über den Preis und waren immer weniger bereit, Verzögerungen bei der Auftragsabwicklung hinzunehmen.
Mangelhaftes Time-to-Market in der F&E kostet Marktanteile
Mehrere F&E-Projekten sollten die Technologie-Führerschaft sichern, zur Differenzierung im Preiskampf und zur Senkung von Produktkosten. Doch die meisten dieser Produktentwicklungsprojekte waren weit hinter dem Zeitplan und über den ursprünglich budgetierten Kosten. Zudem stockte die Abwicklung von Aufträgen sowohl in den eigenen Werken, als auch bei den Zulieferern und bei der Montage.
Die Geschäftsleitung hatte bereits eine Reihe von Beratungshäusern mit Rationalisierungs- und Prozessoptimierungsaufträgen engagiert, aber erst als ein Schlüsselprojekt in der Produktentwicklung mit anderthalb Jahren Verzug vollständig seine Time-to-Market und damit seinen ROI zu verlieren drohte und die Marktanteile massiv wegbrachen, entschloss sich das Management zur Revision und Sanierung der Projekte.
Falsche Besetzung – mangelhaftes Projektmanagement kostet Geld
Nach knapp vier Wochen stand meine Diagnose. Hier die Kurzversion:
In der Produktentwicklung arbeiteten hochkarätige Ingenieure meist in mehreren Projekten gleichzeitig, unter der Leitung von für das jeweilige Entwicklungsobjekt besonders qualifizierten Chefingenieuren, die das Projektmanagement eher nebenbei und ohne besondere Ausbildung betrieben. Deren Fokus lag natürlich auf der Technik, Probleme erschienen ihnen stets als lösbar, solange Zeit und Geld keine großen Rollen spielten.
Mangelhafte Führung und Projektleitung – immer neue Verzögerungen
Im Lenkungsausschuss war man sich uneins über die Prioritäten der Ziele "konkurrenzlose Technologie" und "Produktkostensenkung". Während es dem Gremium nicht gelang, die für die Projekte richtungsweisenden Entscheidungen zu treffen, es stattdessen immer neue Vorbehalte hatte und die auflaufenden Mehrkosten lange "wegsteckte", verzögerten sich in den Projekten immer wieder Entwicklungsphasen und Prototypen. Kein Wunder: Es wurden Personal und Maschinen für Tests und Probeläufe bestellt und wieder abbestellt, beides stand dann zum neuen Termin nicht zur Verfügung, usw.
Dies alles geschah "aus Ressourcenmangel", zumindest herrschte diese Meinung vor; tatsächlich aber fehlten Führung sowie eine verlässliche Planung und Steuerung, verschärft durch Überlastung und ineffizientes Multitasking. Viele Arbeiten hätten bei einem klaren Scope nicht zu Konflikten geführt, die Mehrzahl der Tests hätte vor dem Bau teurer Prototypen im Labor erfolgen und damit eine Vielzahl von Vorbehalten und Risiken vorab ausräumen können. Der Lenkungsausschuss hätte mit einem sinnvollen Reporting und einem Gefühl für eigene Projektverantwortlichkeit viel früher eingreifen können und müssen.
Gleiche Mangelhaftigkeit in Abwicklung und Montage – hohe Margenverluste
Das in der F&E vollständige Fehlen von Projektmanagement und Projekt-Rollenverständnis auf allen Ebenen legte ähnliche Defizite in den Abwicklungsprojekten des Unternehmens nahe. Dort standen die Projektleiter vor der schwierigen Aufgabe, ohne wirkliche Kompetenzen und Ressourcenzugriff die Fertigung in den P&L-verantwortlichen Werken, die Lieferung und die Montage zu koordinieren.
Der Umsatzprovisions-getriebene Verkauf kippte oft mangelhaft geklärte Aufträge und unrealistische Lieferzusagen in die Abwicklung ein und auf der Montageseite – insbesondere bei internationalen Aufträgen – konterkarierten regionale Vertriebsinteressen, Mentalität oder Arbeitsweisen eine plangerechte Auftragserfüllung.
Zulieferer und Kunden hatten häufig eine zu schwache Organisationsreife, um plangetreu bereitzustellen. So waren viele Projekte bereits bei Auftragsannahme "dunkelrot", das Eigenleben der ausführenden Einheiten verhinderte ein zielführendes Projektmanagement, und ihr individuelles Profitstreben machten eine Gesamtoptimierung der Projektmargen unmöglich.
Lösung der Probleme nicht in den Projekten möglich
In beiden Bereichen waren weniger die Projektleiter und –teams die Ursache der Misere, sondern vielmehr mangelndes Bewusstsein und Wertschätzung für Projektarbeit und Projektmanagement im Unternehmen. Neben der Rettung des F&E-Schlüsselprojekts galt es also, einen sukzessiven Wandel in der "Projektkultur" des Unternehmens zu erreichen, weg vom funktionalen Produktdenken der Ingenieure, hin zum ganzheitlichen Kundenfokus des projektgetriebenen Business. (Dies zeigt übrigens auch schön die strategische Komponente in meiner professionellen Arbeit …)
Ersteres war mit ein paar organisatorischen Maßnahmen, einigen grundsätzlichen Entscheidungen zum Projektziel und einem kleinen Griff in die Projektmanagement-Werkzeugkiste schnell bewerkstelligt. Nach einem guten halben Jahr konnte das Projekt mit einem marktfähigen Ergebnis abgeschlossen werden. Daraufhin wurde ein Folgeprojekt zur weiteren Verbesserung der Technologie angestoßen.
"Kulturwechsel" im Maschinen- und Anlagenbau als Überlebens-Rezept
Nachdem es dem Management anfangs sehr schwerfiel, seine Notwendigkeit anzuerkennen, ist der "Kultur-Change" im gesamten Unternehmen nun in vollem Gange. Kultur ist halt etwas Gewachsenes, Denk- und Verhaltensweisen sind nicht so einfach änderbar.
Aber wenn statt der roten Null künftig wieder Erträge in der Unternehmensbilanz stehen sollen, mit den Kundenaufträgen (= Projekten) statt nur Umsatz wieder Gewinn gemacht werden soll, ist dieser Aufwand strategisch dringend notwendig und ökonomisch sinnvoll. Warten hieße dagegen, weiter Geld und Marktanteile zu verlieren.
Problemursache oft außerhalb der Projektarbeit: nicht immer ist
24.07.2022
Hallo Herr Zeumer,
eine sehr interessante Schilderung, insbesondere auch die Kalkulation, was die Projektverzögerung kostet.
Ihre Aussage, dass die Probleme weder beim Projektleiter noch beim Team lagen, deckt sich mit meinen Erfahrungen aus etlichen Projekten im IT-Bereich. Leider fokussieren viele Methoden und Rettungsansätze nahezu ausschließlich auf die innere Projektarbeit und nicht auf das Projektumfeld.
Wenn ein Projekt in der Misere zu weit fortgeschritten ist, dann hilft oft auch nur noch ein totaler Stopp, weil der Zeitpunkt für eine Rettung bereits überschritten ist.
Am 15. Septermber 2022 findet ein #PMtalk dazu statt: https://interim-cio.biz/projektabbruch-aber-wie
Beste Grüße
Peter Burgey