Auf den vorangegangenen Blog-Beitrag gab es Feedback. Wir erinnern uns: Es ging um Chefs, die "agil" missverstehen. Mehrere Betroffene gaben mir Rückmeldung; mit grob zwei Tendenzen. Die erste: "Unser Chef auch! Er fordert Agilität ein und weiß nicht, was das ist." Die zweite: "Aber wenn ich nun mal mit so einem Vorgesetzten zusammenarbeiten muss – wie überzeuge ich ihn davon, dass er falsch liegt?" Gute Frage. Einfache Antwort: überhaupt nicht.
Lass es!
Wenn Führungskräfte behaupten, Agilität bedeute, dass man mit noch weniger Leuten und noch weniger Budget in noch kürzerer Zeit noch überzogenere Projektziele erreichen kann – was machen die meisten Projektleiter und -teams? Sie widersprechen. Sie halten dagegen. Sie versuchen, vernünftig mit ihrem unvernünftigen Chef zu reden: "Chef, das stimmt so nicht!" Tun Sie das nicht!
So können Sie das keinem Chef sagen. Sie geraten mit dieser ehrlichen, sachlich korrekten, aber geradezu selbstmörderischen Ausdrucksweise in einen Clinch, den Sie nicht gewinnen können. Denn im Clinch ist der Vorgesetze immer der Mächtigere. Natürlich gibt es zur Einsicht fähige Führungskräfte, die sagen: "Oh, agil funktioniert ganz anders?" Schön, wenn Sie so einen Vorgesetzten haben. Gratulation – und zurück zu den anderen Chefs. Wie sagen Sie es denen?
Sieh selbst klar!
Je weniger der Chef weiß, was agil bedeutet, desto besser sollten Sie es wissen. Denn je klarer Sie es wissen, desto selbstbewusster und souveräner werden Sie ihm gegenüber – und das ist mehr wert als jedes Argument (das er oder sie nicht hören will).
Viele Führungskräfte haben z.B. gehört, dass man bei "agil" auch Sprints macht. Sie wissen nicht, was ein Sprint ist. Sie kennen den Begriff vom Sport und assoziieren frei: "Sprint heißt superschnell! In sechs Monaten erreichen wir damit, was sonst drei Jahre dauert!" Ein Chef sagte mir tatsächlich mal: "Wir sparen uns damit die ganze Projekt-Dokumentation und die Planung der Projektziele und sind in einem halben Jahr fertig!" Kein Witz.
Sie können dem Chef nicht erklären, dass er da etwas missverstanden hat (ich tat es auch nicht). Es steigert Ihre Souveränität jedoch immens, wenn wenigstens Sie wissen, dass agil so nicht funktioniert, dass Sie das keinesfalls so machen müssen, weil man das keinesfalls so machen kann. Was sollten Sie sonst noch wissen?
Wie agil wirklich funktioniert
Viele Chefs sind auch deshalb von agil begeistert, weil: "Agil hält immer die Termine ein! Immer!" Das stimmt – jedoch nur dann, wenn fürs agile Projekt auch die nötigen Leute freigestellt werden. Das übersehen viele Entscheider. Und dass die Teams nach agilen Prinzipien arbeiten können müssen. Dass z.B. kein Hierarch reinreden darf – weil bei Agilität nur der Product Owner etwas zu sagen hat; beispielsweise sagt dieser: "Wir haben einen fixen Endtermin aufgedrängt bekommen, wir haben Stand heute bis dahin etwa 80% der Ziele erreicht – das reicht uns! Projekt erfolgreich abgeschlossen!"
Und kein Hierarch darf da reinreden! Tut er aber trotzdem? Dann ist das laut Agil-Handbuch die Rote Karte. Aber auch das können Sie dem Chef nicht sagen. Dann rastet er aus (nicht ganz zu Unrecht). Wie sagen Sie es besser?
Nicht sagen – fragen!
Natürlich: Ein- oder zweimal kann man den Chef schon auf den korrekten agilen Sachverhalt hinweisen. Nutzt das nichts, sollte man nichts mehr sagen, sondern vielmehr fragen: "Wer entscheidet, ob die 80% okay sind? Wir – oder die Leute, die das Endprodukt bestellt haben und nutzen werden?" Ganz gleich, welche Antwort der Chef gibt, Sie sind aus dem Schneider. So sagt man's dem Chef: Nicht Kontra geben, sondern die agilen Prinzipien kennen und deshalb die richtigen Fragen stellen.
Die Erfahrung zeigt: Stellt man die richtigen Fragen, kommen fast alle Führungskräfte auf die richtige Antwort – weil Fragen sehr viel stärker zum Nachdenken anregen als Kontra-Geben. Viele Chefs sagen: "Stimmt eigentlich. Der Meier von der Abteilung X braucht das – also soll er sagen, wann gut ist." So sagt man's dem Chef. Nicht mit oberlehrerhaften Belehrungen, sondern mit klugen Fragen. Wer fragt, der führt.
Agil trotz fixem Endtermin?
Das ist eigentlich ein Widerspruch: Agil nähert sich iterativ den Projektzielen und hört auf, wenn der Fachbereich mit dem Ergebnis zufrieden ist. Doch der Chef sagt: "Bis 31.10. brauchen wir 100%! Fix!" – "Chef! Mit agil ist das unmöglich!" So kann man das keinem Chef sagen.
Wieder zahlt es sich aus, wenn man sein Handwerkszeug kennt: Fixtermin trotz agil ist zwar seltsam hybrid, aber nicht unmöglich. Es ist vielmehr die klassische Projektoptimierung mit zwei Stellschrauben: "Chef, machen wir. Um den Termin zu halten und dem Kunden das zugesagte Ergebnis zu liefern brauchen wir (nach Grobplanung) vier Leute an je zwei Wochentagen oder entsprechend Budget für externe Unterstützung. Und wir sollten Meilensteine definieren, indem wir vom Endtermin aus rückwärts rechnen." Das ist nicht agil? Nein, aber das ist pragmatisch und führt Sie (und den Chef) aus dem agilen Dilemma. Und es ist ein zweites Tool zur Führung von unten: Vorschläge statt Widerspruch.
Auf dem Projekt-Friedhof
Egal, ob agil oder klassisch: Für Projekte werden Menschen gebraucht. Personalkapazität ist die Engpass-Stellschraube. Daher vielerorts der berüchtigte Projekt-Friedhof mit den Gräbern jener Projekte, die wegen Personalmangels nicht mehr vorankommen. "Agil ist nicht das Allheilmittel gegen Überlastung!", wie ein Blog-Leser treffend schrieb. Denn auch für agil braucht es Menschen.
Ich kann Dutzende agile Projekte aufsetzen – aber wenn ich dafür nicht die Leute habe, hilft auch agil nicht. Doch so können Sie das einem Entscheider keinesfalls sagen. Sondern fragen: "Ja, gerne, das neue Projekt machen wir auch noch – und könnten wir dafür Projekt 28 und 47 etwas hintanstellen, damit wir Kapazität freibekommen für dieses neue, ganz wichtige Projekt?" Eine sehr manipulative Frage? Ist es noch manipulativ, wenn es allen hilft?
Das Projektleiter-Ethos
Wenn wir nicht länger Kontra geben, sondern fehlinformierte Chefs mit Fragen und Vorschlägen führen – ändern sie sich dann? Manche: ja. Doch bitte warten Sie nicht darauf! Wer wartet, gibt sein Leben aus der Hand. Wir können nicht warten, dass Chefs oder Organisationen sich ändern.
Aber wir können jederzeit unsere Projekte nach allen Regeln der Kunst planen, führen, nachverfolgen, dem Lenkungsausschuss transparent machen und Entscheider mit guten Entscheidungsvorlagen zur Entscheidung drängen.
Wenn wir das tun, wenn wir unseren eigenen Laden sauber halten, können wir jederzeit erhobenen Hauptes und voll Selbstbewusstsein und Souveränität jedem pseudo-agilen Chef ins Auge blicken. Das ist der beste Schutz gegen agil irrende Hierarchen. Oder wie Cicero sagte: Frei zu sein von Schuld ist der größte Trost.
Ein Teilnehmer eines meiner Projektmanagement-Workshops brachte es auf den Punkt: "Ich halte meinen Laden sauber, ich mache alles richtig – und wenn das von der Hierarchie nicht honoriert wird, gehe ich halt woanders hin, wo gute Projektleiter geschätzt werden." Als er das sagte, war es kurz still im Saal – dann brandete Applaus auf. Ich wünsche Ihnen so ein starkes Ethos!
Projektleiter in der agilen Welt
07.06.2019
Ist es nicht ein Widerspruch? Ein "Projektleiter-Ethos" in der agilen Welt, in der es den Projektleiter nicht mehr gibt?