Die Ansoff-Matrix dient dazu, neue Marktchancen für ein bestehendes Unternehmen zu identifizieren. Dafür kann es vielfältige Motivationen geben: Die Unternehmensstrategie kann z.B. insgesamt auf Wachstum ausgerichtet sein, die Wettbewerbssituation kann das Unternehmen zur Neuorientierung zwingen oder im Rahmen einer langfristigen Risikomanagementstrategie soll der Umsatz unabhängiger von den Schwankungen einzelner Märkte werden.
Es geht um potentielle Optionen, nicht um sofortige Maßnahmen!
Neue Marktchancen entstehen für ein Unternehmen dort, wo es mit seinen eigenen Möglichkeiten in der Lage sein könnte, schlecht oder ungenügend gelöste Probleme einer ausreichend großen Anzahl von potentiellen Kunden zu lösen. Bei der Arbeit mit der Ansoff-Matrix geht es darum, möglichst viele potentielle Kombinationen aus Fähigkeiten des Unternehmens und Bedürfnissen von Kunden zu identifizieren.
Dabei liegt besondere Betonung auf der Potentialität, denn es geht darum, nicht bewertete Möglichkeiten zu finden. "Verrückte", d.h. außerhalb der bestehenden Denkmuster liegende Ideen sind ebenso willkommen wie naheliegende Ansätze.
Iterativer Prozess der Strategieentwicklung
Die Strategieentwicklung mit der Ansoff-Matrix gelingt am besten, wenn sie als Prozess verstanden wird, in dem sich die konkrete Arbeit anhand der vier Matrixfelder und Phasen des Reflektierens sowie Beobachtens abwechseln.
In den Beobachtungs- und Reflexionsphasen gilt es, Entwicklungen des Umfelds zu begreifen und die in der Matrix formulierten Optionen mit den tatsächlichen Gegebenheiten abzugleichen. In den Arbeitsphasen werden zunächst Möglichkeiten und dann konkrete Marktchancen abgeleitet. Dabei dienen die vier Felder der Ansoff-Matrix als Reibungsfläche und Denkraster.
Diese Phasen können innerhalb eines Workshops, aber auch über einen längeren Zeitraum hinweg in unterschiedlichen Formaten (Arbeitsgruppen, Großgruppen usw.) stattfinden.
Workshop zur Entwicklung von Marktchancen mit der Ansoff-Matrix
Im Folgenden beschreibe ich exemplarisch, wie die Ansoff-Matrix im Rahmen eines Strategie-Workshops eingesetzt wird. Es sind aber auch viele andere Abläufe und Settings möglich – die grundsätzliche Abfolge bleibt dabei weitgehend gleich. Übertragen Sie die hier beschriebenen Schritte entsprechend auf das Format Ihres Prozesses.
Typisch für die Verwendung der Ansoff-Matrix ist, dass sie mit weiteren Methoden zur Situationsanalyse und zur Strategie-Entwicklung kombiniert wird. Bei den einzelnen Schritten weise ich beispielhaft auf solche Kombinationsmöglichkeiten hin. Im Abschnitt "Ergänzende und ähnliche Methoden" finden Sie weitere Anregungen. Eine isolierte Anwendung der Ansoff-Matrix ist wenig sinnvoll, da sie in erster Linie Anregung und Struktur für den Ideenfindungsprozess ist.
Unabhängig von der Gestaltung des Strategie-Entwicklungsprozesses ist es wichtig, dass sich die Teilnehmenden mit dem Hintergrund, der Ausgangssituation und dem Umfeld des Unternehmens sowie der Motivation für den Strategie-Entwicklungsprozess beschäftigen. Im hier geschilderten Vorgehen ist dies teilweise in Schritt 1 abgebildet. Im Idealfall stimmen sich die Teilnehmenden bereits im Vorfeld eines solchen Workshops auf die Aufgabenstellung ein, z.B. durch eigene Recherchen oder auch fachbereichsspezifische Maßnahmen (z.B. Analyse technischer Trends).
Bei der Vorbereitung und Durchführung des Workshops können Ihnen die Methoden Workshop und Moderation von Arbeitsgruppen wertvolle Unterstützung bieten. Die dort beschriebenen Abläufe wie z.B. die Moderation des Rahmens mit Einladung und Begrüßung sind deshalb hier nicht näher ausgeführt.
Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Folgenden meist nur die grammatikalisch männliche Form (Teilnehmer, Moderator) verwendet. Es sind dabei aber stets Personen jeden Geschlechts gemeint.
Beispiel: Event-Ausrüster ACME
Das Unternehmen ACME hat rund 180 Mitarbeiter und verleiht technische Ausstattung für Großveranstaltungen. Typische Kunden sind Veranstalter, die etwa Konzerte mit bekannten Stars durchführen oder Sportevents anbieten. Die Mitarbeiter sind technisch ausgebildet und haben viel Erfahrung darin, die Ton- und Lichtanlagen zu liefern, aufzubauen, zu betreiben, abzubauen, zu reparieren und einzulagern. Die Entwicklung der vergangenen Jahre war geprägt von zunehmendem IT-Einsatz. Typisch für den Job ist es, mit den Gegebenheiten vor Ort klarzukommen, zu improvisieren und die auftretenden Probleme selbstständig zu lösen. Das Unternehmen ist vor allem in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz aktiv. Das Kundenspektrum reicht von kleinen Konzertagenturen mit wenigen Mitarbeitern bis hin zu großen Veranstaltern, die weltweit Teams im Einsatz haben. Der Markt ist schon seit Jahren sehr preissensibel und die Margen sind gering. Die Wettbewerber versuchen, sich gegenseitig über den Preis aus dem Markt zu drängen.
Die Pandemie mit dem neuartigen Corona-Virus trifft ACME in seinem Kerngeschäft: Während des Lockdowns fielen alle bereits fest gebuchten Veranstaltungen aus. Aufgrund der nicht kalkulierbaren Entwicklungen gibt es auch keine Buchungen für das nächste halbe Jahr, bzw. nur Reservierungen.
Schritt 1: Betrachten Sie die aktuelle Situation!
In der ersten Arbeitseinheit des Workshops stimmen sich die Teilnehmer auf die Aufgabenstellung ein. Ausgangspunkt für die Entwicklung von Marktchancen sind die Probleme potenzieller Zielgruppen eines Unternehmens. Dabei ist "potenzielle Zielgruppen" so zu verstehen, dass prinzipiell jeder einzelne Mensch Zielgruppe eines Unternehmens sein kann.
Je nach Teilnehmerzahl können Sie direkt im Plenum oder zunächst in Untergruppen arbeiten, die ihre Ergebnisse dann zusammentragen. Die Ergebnisse können z.B. auf einer großen, gemeinsamen Moderationswand in Form einer Mindmap dokumentiert werden. Genauso sind Flipcharts, Moderationskarten oder auch elektronische Moderationsmedien möglich.
Zweck dieses Schritts ist, dass die Teilnehmenden ihre Gedanken öffnen, bestehende Denkmuster verlassen und Assoziationen entwickeln. Um dies zu erreichen können Sie z.B. Impulsreferate, Kreativitätsmethoden oder Reflexionsübungen einsetzen. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, die Teilnehmenden mit Hilfe von Leitfragen zur kreativen Auseinandersetzung mit der Ausgangssituation zu motivieren.
Folgende Fragen können Ihnen als Anregung für die Entwicklung eines auf Ihre Situation angepassten Inputs für diese Phase dienen:
- Über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten im Unternehmen verfügen wir als Unternehmen und die Menschen im Unternehmen?
- Wer sind unsere bestehenden Kunden, A-Kunden und "Exoten", und was sagen diese über uns?
- Welche besonderen Aufträge, Probleme und Projekte haben wir in den vergangenen Jahren erledigt?
- Was waren merkwürdige Gegebenheiten und Überraschungen in der jüngeren Firmengeschichte?
- Welche Themen reizen uns schon lange?
- …
Diese Fragen zielen darauf ab, sich sowohl des eigenen Unternehmens und seiner Möglichkeiten bewusst zu werden als auch der Entwicklungen im Umfeld. Elementar für das Gelingen ist dabei, sich nicht künstlich zu beschränken. Häufig beobachten wir, dass lediglich an die anerkannten Fähigkeiten eines Unternehmens gedacht wird, etwa ein bestimmtes Material herstellen zu können. Übersehen werden die Fähigkeiten der Mitarbeiter, die vielleicht gar nichts mit der Tätigkeit im Unternehmen zu tun haben, etwa weil sie "nur" als Hobby ausgeübt werden. Es lohnt sich, über die "Firmenfähigkeiten" hinaus zu denken.
Gleichzeitig gilt es, Beobachtungen zum Umfeld des Unternehmens und Trends zusammenzutragen. Diese Beobachtungen können aus dem Vorfeld stammen oder im Rahmen eines ergänzenden Methodeneinsatzes (z.B. Umfeldanalyse, M-A-C-H-T oder Kraftfeldanalyse) erarbeitet werden. Mögliche Leitfragen hierzu sind z.B.:
- Welche Entwicklungen erkennen wir?
- Welche Probleme haben die Menschen aktuell, welche werden sie morgen, übermorgen oder in zehn Jahren eventuell haben?
- Was sind grundsätzliche gesellschaftliche Diskussionen und welche Themen führen ein Schattendasein?
- Welche Themen spielen im Freundes- und Bekanntenkreis eine große Rolle?
- …
Da dieser Schritt kein eindeutiges Arbeitsergebnis zum Ziel hat, ist es sinnvoll, für ihn von Anfang an eine feste Zeit vorzugeben. Die in dieser "Timebox" zusammengetragenen und dokumentierten Beiträge bilden Hintergrund und Ausgangspunkt für den nächsten Schritt. Der thematische Übergang gestaltet sich dabei meist ganz natürlich – oft können erste Ideen direkt übernommen werden. Dennoch sollte zwischen den beiden Schritten eine Pause von ungefähr 15 Minuten liegen, damit der Übergang vom Beobachten zum aktiven Gestalten klar wird.
Beispiel: Event-Ausrüster ACME
- Die Kunden haben massive Schwierigkeiten, die verbotenen Großveranstaltungen abzusagen oder zu verschieben
- Bei den Kunden herrscht ein Mangel an guten Projektleitern, die auch in schwierigen Situationen Projekte selbstständig voranbringen. Dasselbe berichten Freunde, die in der Industrie und in Werbeagenturen arbeiten.
- Im Freundeskreis werden oft die Besuche von Fußballspielen und das gemeinsame Jubeln vermisst, da diese Veranstaltungen derzeit nicht zulässig sind
- Jeder der Mitarbeiter verfügt über sehr viele, freundschaftliche Kontakte zu unterschiedlichen Unternehmen, da sie immer wieder mit vielfältigen Konstellationen von Menschen zusammenarbeiten.
- Bei unseren Kunden und im Freundeskreis wird zunehmend im Homeoffice gearbeitet, was zu IT-Schwierigkeiten führt. Das stört uns bei der Arbeit, da wir von Familien und Freunden zunehmend angerufen und nach Hilfe gefragt werden.
- Die Geschäftsleitungsmitglieder unserer Kunden wirken hektisch und suchen Rat, wie sie mit dem aktuellen Druck in der Branche umgehen sollen.
- Die Wirtschaftsexperten sind sich uneinig über die wirtschaftliche Entwicklung, was zu einer großen Verunsicherung in der Bevölkerung führt.
- Übergeordnete Trends sind derzeit die Digitalisierung aller Lebensbereiche sowie das Thema Umwelt- und Klimaschutz, was auch zu allgemeinen Diskussionen über neue Wirtschaftssysteme führt und bestehende Kunden konkret betrifft, wenn es etwa um Müllvermeidung und Energieeinsparung bei Veranstaltungen geht.
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