Natürlich gibt es vereinzelt Projekte, in denen das virtuelle Projektmanagement funktionierte. Wir reden hier jedoch über jene Projekte, deren Probleme mir gestresste Projektleiter*innen in den zurückliegenden Wochen vermehrt berichtet haben. Eine Projektleiterin erzählt: "Virtuelle Meetings? Ein ziemlicher Reinfall. Seit wir uns am Bildschirm treffen, ist die Kreativität im Projektteam halbiert – wenn sie überhaupt entsteht!" Beim einen wackelt die Leitung, beim anderen macht sich die Katze auf der Tastatur breit, beim dritten schreit im Nebenraum das Baby – wie soll man sich da auf die Arbeit konzentrieren, geschweige denn kreativ sein können?
Kreativität kaputt
Selbst wenn die Technik funktioniert und alle Haustiere auf der Kuscheldecke Platz genommen haben: Es ist nicht dasselbe. Im Präsenzmeeting wirft man sich kreativ in rascher Folge die Bälle zu: Wie könnten wir die Projektstruktur optimal aufbauen? Passt das von der Logik? Brauchen wir für die Arbeitspakete eine kleinteiligere Aufteilung? Wenn fünf, sieben, zehn kompetente Leute physisch an einem Tisch sitzen, gegenseitig ihre Sätze ergänzen und sich mit guten Ideen ins Wort fallen – da kommt was zustande, da entwickelt das Team die nötige kognitive Kraft, um komplexe Projekt sauber auf den Weg zu bringen.
Bei sieben Leuten am Bildschirm hört man dagegen manchmal die alte Wanduhr beim Kollegen ticken, weil die kollektive virtuelle Lethargie herrscht – oder Ratlosigkeit. Der Mensch ist ein soziales Wesen, auf direkte Interaktion angewiesen und virtuell ist nun mal weder sozial noch direkt – schon allein aus technischen Gründen nicht.
Die Regeln verbieten es
In den besten Projektmeetings geht es oft wie beschrieben chaotisch zu: Man fällt sich gegenseitig ins Wort, unterbricht sich – aber es ist eben meist ein konstruktives, kreatives Chaos. Es produziert Lösungen. Bei zig Leuten am Bildschirm geht das schon rein akustisch nicht: Wenn alle durcheinanderreden, kriegt keiner mehr was mit. Also verbieten es die Regeln. Alle müssen zuhören, andere ausreden lassen – in den meisten Fällen ist das der Tod der Kreativität.
Auch deshalb, weil man zwar die Köpfe der Kolleg*innen sieht, aber nicht die Pinwand oder eine andere Visualisierung, die absolut nötig ist, um bei den komplexen Sachverhalten eines Projekts den Faden nicht zu verlieren. Gewiss gibt es Situationen, in denen eine Video-Konferenz nützlich und produktiv ist. Doch es gibt mindestens ebenso viele Situationen, in denen die virtuelle Technik nicht das liefert, was man sich erwartet von ihr und was man braucht.
Ganz zu schweigen davon, dass sich am Bildschirm keiner das getraut, was in Präsenzmeetings der Normalfall ist: Dass man hinter vorgehaltener Hand dem Nebenmann oder der Nebenfrau auch mal PM-Grundsatzfragen stellt: Sag mal, wie war das nochmal bei uns mit den Arbeitspaketen? Ist dieser Vorgang nun auf dem kritischen Pfad oder nicht? Haben wir die frühestmögliche Information bei sich abzeichnenden Verzögerungen im Arbeitspaket vereinbart oder läuft alles so wie immer? Solche Grundsatzfragen zu stellen traut man sich in der Video-Konferenz meist nicht.
Die Folge sind eifrig nickende Köpfe am Bildschirm, die nach dem Ausloggen zwar motiviert loslegen wollen – doch was soll dabei herauskommen, wenn ihnen grundlegende Sachverhalte unklar sind?
Der Gipfel der Ineffizienz
Dann vereinbart man für, sagen wir, Dienstagmorgen die Zusendung der Meilenstein- oder Arbeitspaket-Planung, der Dienstagmorgen kommt und mit ihm die Planung und wären wir im Präsenzmeeting, kämen in rascher Folge die Einwürfe: Geht hier nicht! Dort haben wir eine Terminüberschneidung! Dafür sind doch nicht genügend Kapazitäten da!
Und dann klärt und korrigiert man das in einer halben oder in längstens einer Stunde. Am Bildschirm oder per E-Mail dauert das deutlich länger. Manchmal auch nicht – doch ich habe es in den Corona-Wochen eben leider oft genug so erlebt.
Agil in der Krise?
Insbesondere agiles Projektmanagement lebt davon, dass Teammitglieder sich regelmäßig informell und persönlich austauschen – wie soll das virtuell mit derselben agilen Lebhaftigkeit und Vertraulichkeit funktionieren? In Lockdown und Homeoffice kommt man eben nicht täglich persönlich zusammen und tauscht sich aus.
Projektleiter klagen: "Virtuell geht das zwar auch in groben Zügen – doch ich muss meine Teammitglieder sehr viel intensiver betreuen, mich umfangreicher auf die Video-Konferenzen vorbereiten und wir müssen viel größere Anteile der Kommunikation aufwändig schriftlich erledigen." Wer hat dafür denn die Zeit?
Vorbei? Wer sagt das?
Manchmal seufzen Projektleiter: "Gut, dass das jetzt vorbei ist!" Das halte ich für übereilt. Denn nach der Krise ist vor der Krise: In vielen Unternehmen ist z.B. das Digitale immer noch nicht weit genug, sodass in einer Krise alle jederzeit auf alle nötigen Dateien zugreifen können – die Corona-Krise zeigte das überdeutlich. Wer das jetzt nicht korrigiert, den trifft die nächste Krise umso härter.
Das gilt nicht nur für die Technik, sondern auch für die Geschäftsleitung und das Management. Schon vor der Krise managte das Strategische Multi-Projektmanagement in vielen Unternehmen die Kapazitätsauslastung nach dem Prinzip: "Unsere Leute sind zu 100% mit Tagesarbeit und zu 100% mit Projektarbeit ausgelastet."
Da knirschte es bereits vor der Krise mächtig, wurde in der Krise als strategischer Wahnsinn entlarvt – und was lernen wir nach der Krise daraus? In vielen Unternehmen lautet die Antwort: nichts. Es geht weiter wie bisher und wie bisher werden die Leute in diesem System systematisch verschlissen. Andere lernen aus der Krise und machen sich ehrlich.
Zwei Lessons Learned
In anderen Unternehmen höre ich ganz oben andere Stimmen, z.B.: "Die Krise hat uns gezeigt, dass wir verantwortungsvoller mit unseren Personalkapazitäten umgehen müssen. Ab sofort gilt: Nicht jede grandiose Idee eines Bereichsleiters wird automatisch zum Projekt."
Auch Projektleiter*innen haben aus der Krise gelernt, darunter auch jene, die vor der Krise nicht ausgesprochen transparent kommunizierten, viele Dinge für sich behielten, den aktuellen Projekt-Status und andere Informationen erst einmal auf dem eigenen Schreibtisch horteten und mit dem Need-to-know-Hinweis rechtfertigten: "Das müssen meine Leute nicht wissen!"
Diese Intransparenz flog ihnen in der Krise heftig um die Ohren, weil ihre Teammitglieder nicht vor Ort im Betrieb den Flurfunk anzapfen und ihre Info-Defizite ausmerzen konnten. Krise braucht doppelte Transparenz – und wer diese Doppel-Dosis auch nach der Krise beibehält, wird zwar überrascht, jedoch zwangsläufig feststellen: Doppelt kommuniziert besser! Auch und gerade außerhalb jeder Krise.
Virtuell ist anders - nicht unbedingt schlechter
22.07.2020
Hallo Herr Tumuscheit,
so ganz deckt sich Ihr Artikel mit meinen fast durchweg guten Erfahrungen nicht. Wenn Sie schreiben "in den besten Projektmeetings geht es oft wie beschrieben chaotisch zu: Man fällt sich gegenseitig ins Wort, unterbricht sich – aber es ist eben meist ein konstruktives, kreatives Chaos", beschreiben Sie dann nicht einen Zustand, den wir auch im Präsenzmeeting oft genug kritisiert haben? Mangelnde Vorbereitung der Teilnehmer, keine Struktur in der Besprechung und hinterher keine brauchbaren Ergebnisse und schon gar keine Dokumentation derselben?
Eine Übertragung dieser Arbeitsweise in die virtuelle Meeting Welt muss natürlich scheitern. In dieser muss man sich auf eine andere, strukturiertere Arbeitsweise einlassen und sie erfordert vom Leiter der Besprechung erheblich mehr Vorbereitung. Solche Meetings können dann aber auch erheblich produktiver und effizienter sein als das unstrukturierte Chaos vor Ort. Voraussetzung ist, dass man sich auf das neue Medium einlässt und verabredet, wie man Diskussionen führt und steuert. Einige unserer Kunden bestätigen sogar, dass die online Situation ihnen hilft ihre bekanntermaßen ausschweifende Meetingkultur zu bändigen.
Meine Tipps dazu wären:
- Bestimmen Sie einen Moderator, der die gesamte Sitzung leitet.
- Legen Sie im Voraus klare Ziele, Zeiten und die zu verwendenden Werkzeuge für die Konferenz fest und stimmen Sie diese mit den Teilnehmern ab.
- Nutzen Sie virtuelle Flipcharts/Pinnwände oder Mindmaps. So können Sie eine „echte“ Meeting-Situation sehr gut simulieren. Nutzen in Sie in größeren Runden Breakout Sessions, um parallel in kleinen Teams an Themen zu arbeiten.
- Verteilen Sie daher die Themen auf mehrere, kurze Sitzungen, anstatt alles in eine zu packen. Falls es doch ein längeres Meeting wird, machen Sie nach spätestens einer Stunde eine Pause.
- Mit einer Mitschrift vermeiden Sie Unklarheiten und nachträgliche Diskussionen.