"Das habe ich noch nie gesehen!"

Ein Seminar über PM-Arbeitstechniken, zwölf Projektleiterinnen und Projektleiter aus verschiedenen Unternehmen sind versammelt. Wir sind mitten im arbeitstechnischen Dreischritt aus Projektziele definieren, Arbeitspakete schnüren und Risikoanalyse anstellen, da hebt ein Projektleiter die Hand und sagt: "Ich bin seit über zehn Jahren in meinem Betrieb für Kundenprojekte verantwortlich. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen." Erst ist es totenstill im Seminarsaal. Dann bricht der Tumult los.

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"Das habe ich noch nie gesehen!"

Ein Seminar über PM-Arbeitstechniken, zwölf Projektleiterinnen und Projektleiter aus verschiedenen Unternehmen sind versammelt. Wir sind mitten im arbeitstechnischen Dreischritt aus Projektziele definieren, Arbeitspakete schnüren und Risikoanalyse anstellen, da hebt ein Projektleiter die Hand und sagt: "Ich bin seit über zehn Jahren in meinem Betrieb für Kundenprojekte verantwortlich. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen." Erst ist es totenstill im Seminarsaal. Dann bricht der Tumult los.

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Ein Seminar über PM-Arbeitstechniken, zwölf Projektleiterinnen und Projektleiter aus verschiedenen Unternehmen sind versammelt. Wir sind mitten im arbeitstechnischen Dreischritt aus Projektziele definieren, Arbeitspakete schnüren und Risikoanalyse anstellen, da hebt ein Projektleiter die Hand und sagt: "Ich bin seit über zehn Jahren in meinem Betrieb für Kundenprojekte verantwortlich. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen." Erst ist es totenstill im Seminarsaal. Dann bricht der Tumult los.

Tumult statt Technik

Während die einen es vor Entgeisterung kaum fassen können, beschimpfen andere wütend die Unternehmensleitung. Eine Projektleiterin fragt: "Meine Güte, wie haben Sie Ihre Projekte denn bislang überwacht und gesteuert?" Ich wette, Sie haben es bereits erraten: mit handschriftlichen Notizen und rudimentären, selbstgestrickten Excel-Tabellen.

Dass es dafür auch Formblätter, Tabellen, standardisierte Vorgehensweisen, ausgewiesene, praxisgetestete und seit Jahrzehnten bewährte Arbeits- und Entscheidungstechniken gibt, ist in seinem Unternehmensbereich mit 320 Mitarbeitenden und ständig circa 50 laufenden Kundenprojekten nicht bekannt. Erst einmal: Alle Achtung! Das ist eine bewundernswerte Leistung.

Die Projekt-Helden

Dass man unter diesen Umständen überhaupt erfolgreich Projekte managen kann, ist vergleichbar mit fortgesetzten Reifenwechseln auf freier Strecke ohne Wagenheber – man hebt die Karre mit übermenschlicher Anstrengung von Hand an. Niemand lacht, als ich den Vergleich wage. Am allerwenigsten der im doppelten Wortsinn betroffene Projektleiter. Er ist fassungslos: "Ich veranstalte bei jedem verflixten Projekt einen Riesenaufstand, hänge Feierabende und Wochenenden dran und jetzt sagen Sie mir, dass ich mit der Hälfte Aufwand viel bessere Ergebnisse erzielen könnte?" Nein. Nicht könnte, sondern kann.

Nach dem ersten Schock kommt die Wut bei ihm hoch: "Das ist eine Frechheit. Können Sie bitte sofort meinen Chef anrufen und dem mal ordentlich die Leviten lesen? Wir brauchen diese Arbeitstechniken. Sofort. Mensch, wir machen uns hier zum Affen – und völlig unnötig!" Bevor wir in die Verurteilung der Geschäftsleitung einstimmen: Die hatten wirklich keine Ahnung. Die machten Projektmanagement "aus Tradition und Überzeugung". Seit 30 Jahren erfolgreich. Unverändert. Noch einmal: Das ist eine unglaubliche Leistung. Das schafft heutzutage niemand mehr. Niemand?

Leider kein Einzelfall

Leider erlebe ich diese Schockzustände laufend. Wir diskutieren hier im privilegierten Rahmen des Projekt Magazins die Speerspitze der PM-Entwicklung und vergessen dabei oft, dass wir eine Elite sind. Ganz fürchterlich viele Projektleiter haben tatsächlich die Entwicklung der PM-Arbeitstechniken nie mitbekommen. Die machen – unfreiwillig! – immer noch "Neander-PM".

Die meisten von ihnen nicht mehr lange. Denn wenn der unmittelbare Konkurrent "Turbo-PM" einführt, sind ihre Unternehmen binnen drei, vier Jahren weg vom Markt. Die Frage ist mithin nicht, ob dieser PM-Atavismus heroisch ist. Er ist es. Die Frage ist: Wie lange überlebt ein Unternehmen diese Ochsentour? Eine andere Frage ist: Wie um Himmels willen kann man derart den Anschluss verlieren?

Kompetent, aber voll daneben

Die Mehrheit der Entscheider, die nie etwas von PM-Arbeitstechniken gehört haben, sind extrem erfahrene Leute, die seit 20 oder 30 Jahren in ihrem Geschäft sind, großen Erfolg und die Prozesse im Projekt voll drauf haben – aber nach den ersten fünf Jahren niemals wieder reflektiert haben: Wie können wir die Prozesse anpassen, optimieren, schneller und kundenfreundlicher machen? Mit weniger Verwaltung, Bürokratie und Stress und dafür mit mehr Transparenz? Erfolg ist schön, macht aber auch blind.

Lessons Learned

Jedes Mal, wenn ein malträtierter Projektleiter sich wünscht, dass ich seinem Vorgesetzten "das Licht zeige", lehne ich ab. Das habe ich probiert. Das bringt meist nichts. Denn der Vorgesetzte hat mit seiner fortgesetzten Technikindolenz lange Jahre bewiesen, dass er blind ist für Entwicklungen von außen; er leidet unter dem sogenannten Not-Invented-Here-Syndrom.

Viel besser funktioniert die Veränderung des Systems von innen. Die Erfahrung zeigt, dass das aufwandsarm zum Beispiel in Form eines Lessons-Learned-Workshops gelingt. Der ist auch aus Sicht der Entscheider "unverdächtig". Dafür kommen dann ein oder zwei Handvoll Projektleiter aus dem Unternehmen zusammen. Wenn ein oder mehrere Entscheider dabei sind – umso besser (muss aber nicht sein).

Dann fragen wir: Was hat sich in unseren Projekten bewährt? Und was können wir tun, damit wir leichter, schneller und erfolgreicher arbeiten können? Ich habe noch keinen Projektleiter erlebt, der bei diesen simplen Fragen nicht automatisch auf die etablierten Arbeitstechniken gekommen wäre. So ein Workshop kostet nicht die Welt, bringt aber viel. Die Frage ist, ob sich der Chef darauf einlässt.

Entscheider überzeugen

Das ist umso wahrscheinlicher, je überzeugender der Projektleiter argumentiert, je mehr Kollegen er um sich schart ("kritische Masse") und je stärker er dem Chef dessen Vorteile verdeutlichen kann: mehr Transparenz in den Projekten, mehr Erfolg, weniger Probleme, weniger Terminverzögerungen, zufriedenere Kunden.

Im vorliegenden Fall bezahlte der Chef tatsächlich nach zwei, drei Wochen Überzeugungsarbeit den Workshop mit den Worten: "Wenn das alle wollen – dann machen wir das. Für Wichtiges ist immer Geld da! Vor allem, wenn es sich auszahlt." Das sagen eigentlich alle Vorgesetzten, die man lange genug bearbeitet (es gibt auch Ausnahmen – aber das sind eben Ausnahmen). Warum sagen sie es nicht gleich?

Der Mensch, das Tier mit Bias

Alle Lebewesen leiden unter kognitiven Verzerrungen, den sogenannten Biases. Viele Projektleiter fragen: "Warum muss ich den Chef erst mit der Nase darauf stoßen? Warum kommt er nicht selber drauf?" Weil er gebiast ist. Das hört man. Er sagt nämlich: "Wieso Arbeitstechniken und so 'n neumodischer Kram? Es läuft doch auch so bei uns! Okay, ihr macht ständig Überstunden – aber wir arbeiten alle hart!" Hat das Unternehmen dann auch noch eine Machtposition im Markt, nimmt der Kunde gerne acht, zehn, 14 Monate Projektverzögerung in Kauf. Wobei: Wer redet von Verzögerung?

Tarnen und Täuschen

Dem Kunden wird die vermeidbare Verzögerung natürlich nicht als solche verkauft, sondern: "Wegen Ihrer Sonderwünsche dauert es eben länger!" Und der Kunde schluckt das nolens volens. Die Wahrheit ist: Es sind nicht seine Sonderwünsche, sondern schlicht die mangelnde Transparenz und die schwache Effizienz des Projektmanagements.

Wenn das Projektmanagement also effizienter und transparenter arbeitet, haben alle etwas davon. Die Geschäftsleitung braucht keine Ausreden mehr, die Kunden kriegen schneller ihre Projektergebnisse und die Projektleiter liefern mit deutlich weniger Aufwand deutlich schneller, kommen feierabends endlich wieder heim zur Familie und haben wieder Spaß bei der Arbeit.

Erleben Sie den Vortrag "Guerilla-Projektmanagement" von Klaus D. Tumuscheit auf der PM Welt am 26. April 2016 in München.

 

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Alle Kommentare (3)

Profile picture for user georg_angermeier@ask-asc.de
Georg
Angermeier
Dr.

Hallo Herr Tumuscheit, vielen Dank für diese eindrucksvolle Schilderung einer vielfach anzutreffenden Realität. Aus meiner Erfahrung gibt es aber auch eine andere, für mich sehr hoffnungsvolle, Entwicklung: Die Unternehmensführung hat von Projektmanagement als effizienzsteigernde Maßnahme gehört und will dieses "Tool" nun möglichst schnell implementieren. In diesen Unternehmen sitzt man dann als Berater oder Trainer im illustren Kreis von Vorstand und HR-Verantwortlichen und soll vorstellen, wie man bei den Projektleitern möglichst schnell einen qualitativen Sprung erzielen will. Diese Situation ist mindestens so knifflig wie die von Ihnen geschilderte. Zum einen muss man den Entscheidern deutlich machen, dass mit einem Training oder einer Zertifizierung noch gar nichts gewonnen ist, sondern dies nur erste, qualifizierende Schritte sind. Zum anderen, und das ist noch viel schwieriger, muss man das Top-Management davon überzeugen, dass sie selbst die wichtigsten Treiber und Akteure bei der Weiterentwicklung und Professionalisierung des Projektmanagements sind. Und dann gibt es die Hürde bei den "aus altem Holz geschnitzten" Projektmanagern zu nehmen: "Wozu brauchen wir diesen ganzen Formularwahnsinn und Overhead - das haben wir bisher doch auch so mit gesundem Menschenverstand gemanagt!" Trotz dieser Herausforderungen freut es mich immer wieder, auf eine solche Situation zu treffen, da dies ein Beweis für die zunehmende Etablierung von Projektmanagement in der Wirtschaft ist und deutlich macht, dass seine Bedeutung als Wettbewerbsfaktor immer stärker wahrgenommen wird - und zwar von der Unternehmensführung selbst. Viele Grüße und bis zur PM Welt!

 

Guest

Hallo Herr Tumuscheit, hallo Herr Dr. Angermeier, Ich möchte zu Ihren Darstellungen eine dritte Variante hinzu fügen: Der Vorstand ist von Projektmanagement überzeugt und möchte es überall im Unternehmen realisiert haben (sagt er zumindest). Die Mitarbeiter werden geschult. Die Seminarteilnehmer sind von dem Mehrwert der PM-Methodik überzeugt und sind motiviert, diese in Ihren Alltag zu integrieren. Jetzt kommt die Lehmschicht (auch: Lähmschicht) ins Spiel. Zitat eines Vorgesetzten aus dem mittleren Management: "Lassen Sie den Quatsch und fangen Sie an zu arbeiten!" Mein Vorschlag war, mit dem Management einen Workshop zu veranstalten nach dem Motto: "Was bedeutet Projektmanagement für unser Unternehmen", um einen Kulturwechsel und eine Nachhaltigkeit zu garantieren. Dies wurde vom Vorstand abgelehnt: "Was sollen wir denn sonst noch alles tun. Wir machen doch schon so viel..." Manchmal habe ich den Eindruck: Klarheit, Übersichtlichkeit und Aussagefähigkeit sind einfach nicht erwünscht. Man könnte ja Rückschlüsse ziehen und in die Schusslinie geraten. Außerdem führt steigender Wettbewerbsdruck u.a. zu unrealistischen Projektanforderungen, wogegen keine PM-Methodik helfen kann. Mit besten Grüßen

 

Guest

Guten Tag Herr Tumscheit PostIt, Messaging und persönliche Kommunikation, aber auch "handgestrickte" Excels können geradeso effektiv, wie die "hochentwickelten" Tools sein. Diese verursachen vielfach einen enormen Verwaltungsaufwand und mässige Resultate. Einfach das Telefon in die Hand nehmen und die Mitarbeiter direkt befragen, bzw. beauftragen, ist meistens effektiver. Ein Meeting oder eine Telekonferrenz bringt mehr, als das verteilen von strukturierten Tasklists, die niemand liest. D.h. nicht, dass man die Tools und Verfahren nicht ihre Berechtigung haben, sie erledigen aber nicht die die wichtigste Arbeit eines PL: Führen und kommunizieren.