Radikal statt optimal

Seit 20 Jahren coache ich Manager aller Ebenen und Funktionen, darunter jede Menge Projektmanager. Nicht nur, weil der Druck im Projekt oft sprichwörtlich ist, sondern weil ich selbst viele Jahre als Projektmanager tätig war und in meinen Anfangsjahren gerne jemanden gehabt hätte, der mir nicht nur Termin- und Budgetkürzungen um die Ohren haut, sondern hin und wieder einen Tipp zum General Management im Allgemeinen und zum Projektmanagement im Speziellen gegeben hätte. Ich hätte mir zum Beispiel viel Druck und Ärger erspart, wenn mich damals schon jemand auf Radical Management aufmerksam gemacht hätte.

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Radikal statt optimal

Seit 20 Jahren coache ich Manager aller Ebenen und Funktionen, darunter jede Menge Projektmanager. Nicht nur, weil der Druck im Projekt oft sprichwörtlich ist, sondern weil ich selbst viele Jahre als Projektmanager tätig war und in meinen Anfangsjahren gerne jemanden gehabt hätte, der mir nicht nur Termin- und Budgetkürzungen um die Ohren haut, sondern hin und wieder einen Tipp zum General Management im Allgemeinen und zum Projektmanagement im Speziellen gegeben hätte. Ich hätte mir zum Beispiel viel Druck und Ärger erspart, wenn mich damals schon jemand auf Radical Management aufmerksam gemacht hätte.

Die Vorzüge dieser radikalen – im Sinne von: an der Wurzel ansetzenden – Management-Methode lernte ich bei einem Lagerprojekt kennen. Die Lagerhaltungskosten sollten binnen kürzester Zeit um 30% reduziert werden: extremes Ziel, wenig Zeit, kaum Budget, hoher Druck. Unser Team mühte sich sechs Monate lang, das in den Jahren zuvor bereits zwei Mal reorganisierte Lager erneut effizienter zu machen. Vier Wochen vor dem Endtermin lief mir auf dem Flur ein Händler über den Weg, der für seine Marktoffensive mit dem Motto „Wir reparieren alles!“ von der Marketingabteilung ein paar Plakate und Aufsteller wollte – und am liebsten ein Konsignationslager (ein Lager bei ihm im Haus), denn: „Die Ersatzteile sind viel zu lange von euch zu uns unterwegs. Kein Kunde wartet heute noch drei Tage! Die wollen Overnight-Service!“ Mir ging ein Licht auf.

Genial radikal

Ich drehte auf dem Absatz um, ging ins Büro des Geschäftsleiters und sagte: "Das ist jetzt vielleicht ein wenig radikal. Aber: Schließen wir das Lager doch komplett – bis auf, sagen wir 20% – und lagern 80% an die Händler aus." Der Geschäftsführer schaute verdutzt und sagte dann: "Das ist nicht radikal, das ist genial!" Die Begeisterung war groß, alle gratulierten sich – nur das Projektteam moserte: „Warum fällt Ihnen das jetzt erst ein?" Aus gutem Grund.

Inkrementalismus: Warum?

Wenn ich früher einen Auftrag bekam, habe ich ihn ausgeführt – heute hinterfrage ich ihn. Nicht sofort. Sofort sage ich dem Auftraggeber: „Danke für den Auftrag!“ Dann setze ich mich mit dem Projektteam zusammen und frage: „Der Auftrag ist klar. Die Ziele auch. Bevor wir beginnen, eine Frage out of the box: Wie könnten wir dieselben Ziele mit einem komplett anderen Vorgehen erreichen? Dem Kollegen mit der radikalsten Idee gebe ich einen aus!“ Gute Ideen kommen immer – die Leute kennen sich schließlich aus. Ob die beste Idee vom Auftraggeber akzeptiert wird, ist eine andere Frage. Meine Erfahrung: In vier von zehn Fällen wird sie akzeptiert, in zwei Fällen wird sie unbeschadet des aktuellen Auftrags weiterverfolgt, aber in allen zehn Fällen muss der Projektleiter teils intensivste Überzeugungsarbeit leisten. Warum?

Zu radikal fürs Management?

Die Standardreaktion vieler Manager auf Radical Solutions ist nicht Begeisterung, sondern: "Zu extrem! Das erschreckt die Leute doch nur! Niemand macht das so!" Sind Manager so ängstlich? Nicht ängstlich, sondern so erzogen: Wer die letzten 20 Jahre atemlos optimiert hat, kennt heute nichts anderes mehr; das ist die Macht der Gewohnheit. Außerdem tun sich viele schwer mit guten Ideen, wenn sie "von unten" kommen. Das hat einerseits etwas mit dem Ego und andererseits etwas mit kaufmännischer Vorsicht zu tun. Beide kann man mit dem Management-Äquivalent von Aspirin kurieren – mit Pilotprojekten.

Als der Vertriebsleiter in unserem Lagerprojekt blockierte, schlugen der Geschäftsleiter und ich ihm vor: „Legen Sie doch drei Pilotprojekte mit ausgewählten Händlern auf.“ Als die Projekte ein Erfolg wurden, waren es natürlich „seine“ Projekte und: „Ich war von Anfang an dafür!“ Erfolg überzeugt eben. Nichts gegen inkrementelle Optimierung. Doch die allgemeinen Konsequenzen des Inkrementalismus sind: Es geht nur in kleinen Schritten voran. Wenn aber die Umwelt, der Markt, die Konkurrenz oder die globalen Netzwerke mit Riesenschritten unterwegs sind, werde ich abgehängt – oder zugeschüttet. Genau das, was derzeit die E-Mail-Flut mit uns macht.

Praxisbeispiel Mail-Flut

Meiner Erfahrung nach kriegt jeder Manager im Schnitt zwischen 50 und 150 E-Mails – täglich. Kein Mensch kann diese Menge bearbeiten, wenn er nebenher auch noch was anderes zu tun hat – zum Beispiel managen. Wie wehren sich die meisten gegen die Flut? Sie inkrementieren. Sie bitten Kollegen und Mitarbeiter: „Setzt mich nicht mehr auf CC! Nur, wenn es absolut nötig ist!“ Oder: „Ich lese nur noch Mails, die eine Seite oder kürzer sind!“ Das habe ich vor Monaten auch versucht. Ohne durchschlagenden Erfolg: Denn die Mails kamen natürlich immer noch. Irgendwann war mein Frust groß genug, dass ich radikal wurde.

Das ist meiner Ansicht nach der beste "Anlasser" für Radikallösungen: A) Nutze deinen Frust! B) Sag im Frust spontan, was dir am allerliebsten wäre! Bei mir war es: "Einen Tag ohne E-Mails!" Also verordnete ich mir selbst den MFT, den Mailfeiertag, nur um mal wieder in Ruhe arbeiten zu können. Ich sagte das auch meinen Kunden und Kontakten: "Ab sofort ist Mittwoch mail-frei! Ruft mich an, wenn es was gibt!" Die Folge: Die ganzen Ping-Pong-Mails fielen weg: Mail – Antwortmail – Rückmail – neue Mail-Runde – et cetera ad infinitum. Stattdessen rufen die Leute an, wir reden fünf Minuten – und ersparen uns vier Mail-Runden mit summiert 20 Minuten. Genial? Ja, aber …

Die Ja-Abers

Inzwischen spricht mich jeder zweite Klient auf seinen Mail-Stress an. Erwähne ich meine Radikallösung, ist die erste Reaktion: „Aber das geht doch nicht! Schließlich muss ich auch Dokumente versenden!“ Dann tu das doch! Auch am MFT. Die ganzen Ping-Pong-Runden fallen dann immer noch weg! Außerdem geht Telefonieren schneller als Schreiben, Redigieren, Formatieren. Aber dann hat man ja nichts Schriftliches vorzuweisen? Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist: "Für jede radikale, geniale, originäre, innovative Lösung", sagte mir ein Vorstand mal, "haben wir fünf Bedenkenträger, die radikal dagegen sind."

Radikallösungen radikalisieren, weil sie unsere Identität tangieren: Inkrementalisten fühlen sich eben am wohlsten, wenn das Universum sich Schritt für kleinen Schritt entwickeln würde. Innovateure dagegen fühlen sich wohl mit dem großen Wurf. Die Frage ist nun nicht, wer von beiden Recht hat. Die Frage ist: Wenn wir im Schneckentempo unterwegs sind, der Markt jedoch eine Gazelle, die Konkurrenz ein Leopard und die globale Entwicklung eine Springflut ist – sind wir verhaltensflexibel und mutig genug, auch mal den Inkrementalismus eine Zeitlang zur Seite zu stellen und radikal den großen Wurf zu wagen?

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Alle Kommentare (4)

Guest

Genial! Danke für diesen tollen Impuls. Wenn ich so zurückdenke, hat das - ohne, dass es mir bewusst war - bei mir auch schon hin und wieder funktioniert. Frust und Zeitnot lassen einen schnell aufs Wesentliche kommen. Und allen Unkenrufen zum Trotz: ich schreibe und lese schneller und lieber als ich telefoniere. Frau verquasselt sich zu schnell, dann dauert so ein Telefonat doch viel länger als eine fixe Mail... ;-))

 

Guest

Hirnforschung zeigt Vorteile des Externalisieren. Beim "Getting Things Done" ist ein wichtiger Punkt das "Trusted System". Wir kriegen Dinge aus dem Kopf in dem wir sie in einem externen System ablegen, dem wir trauen. Das menschliche Bewusstsein kann praktisch gar nicht multi-tasken oder parallelisieren (im Gegsatz zum Unterbewusstsein). Zu viele Dinge im Bewusstsein verursachen 30-40& switching costs und Konzentration, Willen und Entscheidungsfähigkeit sind sehr beschränkte Resourcen. So versuche ich zu mail einzusetzen. Raus aus dem Kopf! (Pferdefuss: Ich traue Outlook nur mäßig ;-)

 

Guest

Meine Erfahrung ist eher die, das es in einer Organisation gar nicht unbedingt an radikalen Ideen mangelt; ich würde soweit gehen zu behaupten das es in jeder Organisation ab einer bestimmten Größe mehrere Mitarbeiter gibt, die durchaus radikale Ideen entwickeln können, gerade dann wenn der Frust mal wieder sehr gross wird oder der Stress länger anhält. Das Problem ist nur leider sehr oft, das der Prophet im eigenen Land nicht gehört wird. Da muss erst jemand von außen kommen der im Zweifel sogar einfach nur die intern vorhandenen Ideen einsammelt und dem Management vorstellt und dann wird schon eher auf sowas geachtet und zumindest mal ernsthaft darüber nachgedacht. Und dann kommt es noch sehr auf die Mentalität und Entscheidungsfähigkeit und -freiheit des Managements an.

 

Guest

Eine (statistische) Erklärung dafür, dass Radikallösungen nur von einer Minderheit akzeptiert werden, liefert vielleicht die Myers-Briggs-Typologie. Denn auf solche Ideen kommen wohl bevorzugt Leute vom Typ xxTJ, und das ist nur ungefähr ein Viertel der Menschen unseres Kulturkreises. Das gilt auch für das Management. Also, Radikale: Trainiert Eure Geduld und Argumentationsfähigkeit!