Die kritische Kette: Ein praxistaugliches Konzept?
Die kritische Kette: Ein praxistaugliches Konzept?
Revolutionäre Erkenntnisse und Methoden sind im Projektmanagement so dünn gesät, dass sie meist einigen Wirbel verursachen. Die kritische Kette, die der US-Autor Eliyahu Goldratt mit seinem Wirtschaftsroman "Critical Chain. A Business Novel" eingeführt hat, gehört zu dieser Kategorie.
Im englischsprachigen Raum gibt es bereits zahlreiche Veröffentlichungen, deren Autoren Goldratts Methode aufgeschlossen gegenüberstehen. Und die deutsche Übersetzung betitelt "Die Kritische Kette" als "Das neue Konzept im Projektmanagement". Doch ist Goldratts Methode wirklich alltagstauglich? Dieser Frage gehe ich im folgenden Artikel auf den Grund.
Eliyahu Goldratt arbeitet als Managementberater und unterhält seiner Website (www.goldratt.com) zufolge in mehreren Ländern Niederlassungen seines Goldratt-Instituts. Er ist der geistige Vater der "Theorie Of Constraints" (TOC, siehe Goldratt 1990), die ihren Ursprung im Produktionsmanagement hat. Seine neuen PM-Erkenntnisse, die er in dem Roman schildert, sind laut Goldratt das Ergebnis der TOC-Anwendung.
Ein Professor als Romanheld
Die Hauptfigur der Geschichte ist ein Professor namens Richard Silver, der einen praxisorientierten PM-Kurs für die Studenten einer MBA-Klasse für Führungskräfte leitet. Während des Kurses erscheint Silver das herkömmliche Paradigma der Projektfortschrittsmessung (Goldratt 2002, S. 88 f), wie es an der Universität gelehrt wird, als unzureichend. Er erörtert seine Bedenken mit einem Kollegen, der ihm von dem neuen Problem-Lösungsverfahren TOC berichtet.
Richard Silver löst nach anfänglicher Skepsis seine theoretischen Probleme durch Anwendung der TOC. Im Handlungsverlauf entwickelt er gemeinsam mit dem Kurs die kritische Kette. Die MBA-Studenten testen sie in ihren Unternehmen auf Praxistauglichkeit und verfeinern sie gemeinsam durch ihr Feedback.
Was der Roman zum Projektmanagement sagt
Eine zentrale These von Goldratts Roman ist, dass das Ergebnis eines Schätzprozesses implizit immer erhebliche Sicherheitsreserven enthält. Drei Mechanismen führen zur Bildung von Zeitpuffern. Im Roman heißt es dazu (Goldratt 2002, S.126 u. S. 51):
- "Der erste besteht darin, dass die Zeitschätzungen aufgrund schlechter Erfahrungen pessimistisch angesetzt werden, nämlich am Ende der Verteilungskurve. ... Ein Sicherheitspolster von 200 Prozent ist eher die Norm als die Ausnahme."
- "Der zweite besteht darin, dass die veranschlagte Gesamtzeit um so länger wird, je mehr Managementebenen einbezogen werden, da jede Ebene eigene Sicherheitskapazitäten hinzufügt."
- "Der dritte besteht darin, dass diejenigen, welche die Schätzungen erstellen, sich von vorneherein gegen pauschale Kürzungen wappnen."
Goldratt muss seinen Lesern - aufbauend auf dieser Argumentation - eine Erklärung dafür anbieten, warum in der Praxis so viele Projekte erhebliche Terminverzögerungen aufweisen, obwohl die Schätzungen doch immense Sicherheitspolster beinhalten. Nach dieser Erklärung sucht der fiktive Dozent Richard Silver in der Diskussion mit seinen Studenten. Die Gruppe spürt drei Mechanismen auf, die diese Sicherheitsreserven wieder aufzehren.
Drei Mechanismen zehren die Zeitpuffer auf
Die MBA-Gruppe findet drei Phänomene heraus, die alle Sicherheitspuffer schnell wieder dahinschmelzen lassen:
- Spätmeldesyndrom (Anm.: vom Verfasser gewählter Begriff): Demnach ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand es weitermeldet, wenn er seine Aufgaben vor Ablauf der offiziellen Frist erfüllt hat. Tut er das doch, so profitiert der Folgeschritt höchst selten davon. Die Schlussfolgerung: "Die eingesparte Zeit ist also für die Katz. ... Zeitlicher Verzug bei einer Phase wird voll an die nächste Phase weitergegeben. Ein Zeitgewinn bei einer Phase bleibt gewöhnlich ungenutzt". (Goldratt 2002, S.129)
- Studentensyndrom: Lernen in letzter Minute - wer hat das als Student nicht so praktiziert? Im Projektalltag sieht es ähnlich aus: "Erst kämpft man um die Zeitreserven. Bekommt man sie, steht genug Zeit zur Verfügung. Warum sollte man also in Hektik verfallen? Und wann erledigt man die Aufgabe dann? Auf den letzten Drücker. Das liegt in der Natur des Menschen." (Goldratt 2002, S. 132)
- Multitasking-Syndrom: Multitasking soll vor allem eine optimale Ressourcenausnutzung (Kosteneffizienz) bringen. Diese steht aber oft in Konflikt zu den Terminzielen. Um diesen Mechanismus zu verdeutlichen, arbeitet Goldratt mit einem Beispiel: "Nehmen wir einmal an, eine Person ist für drei Phasen zuständig, für A, B und C. ... Jede Phase nimmt zehn Arbeitstage am Stück in Anspruch. Nimmt sich der Betreffende die Aufgaben der Reihe nach vor, so beträgt die Fertigstellungszeit pro Phase zehn Tage. So wird Aufgabe B etwa zehn Tage, nachdem er mit der Arbeit daran begonnen hat, an jemand anderen verwiesen, der die Arbeit fortsetzt. Doch unser Mitarbeiter steht unter Druck und versucht, es allen recht zu machen. Infolgedessen arbeitet er nur fünf Tage am Stück an einer Aufgabe und wendet sich dann fünf Tage lang der nächsten zu. Nehmen wir an, er geht dabei in der Reihenfolge A,B,C,A,B,C vor. Wie lange braucht er jeweils, um eine der Aufgaben zu Ende zu bringen?" (Goldratt 2002, S. 134 f )
Multitasking verlängert die Bearbeitungszeit für die einzelnen Aufgaben (Bild 1). Mitarbeiter X ist mit Aktivität A erst nach 20 Tagen fertig. Ohne die Unterbrechung, die er verursacht, indem er die Aufgaben B und C beginnt, wäre Aktivität A laut Planung schon nach 10 Tagen erledigt.
…
U. Keller
10.12.2012